Schwieriges Erbe. Wie soll die Ukraine mit dem umstrittenen "Nationalhelden" Stepan Bandera umgehen?

Grzegorz Rossolinski-Liebe
15.08.2022, 05.30 Uhr

Grzegorz Rossolinski-Liebe ist Alfred Landecker Lecturer an der Freien Universität Berlin. 2014 veröffentlichte er die erste wissenschaftliche Biografie von Stepan Bandera, die 2021 in Kiew auf Russisch und Ukrainisch erschienen ist.

Die Verehrung des Nationalistenführers in der Ukraine sorgt im Ausland regelmässig für Irritationen. Denn der Bandera-Kult ignoriert die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft. Der russische Krieg verstärkt jetzt diese Blockade. Bei einem Gedenkmarsch in Kiew am 1. Januar 2017 trägt eine Frau das Porträt von Stepan Bandera mit sich.
Imago

Andri Melnik, der vormalige ukrainische Botschafter in Deutschland, hatte seit Kriegsbeginn mit seiner oft rüden Art manche Kontroversen ausgelöst. Seine ultimativen Forderungen nach mehr Unterstützung für sein Land wurden von der deutschen Öffentlichkeit immer weniger goutiert.

Doch es war nicht seine scharfe Kritik an der deutschen Regierung oder den Intellektuellen des Landes, die zuletzt den Ausschlag gab, dass Kiew den kämpferischen Diplomaten abzog. Es waren seine Äusserungen zu einer der umstrittensten Figur der ukrainischen Geschichte: Stepan Bandera (1909-1959).

Die fast uneingeschränkte Verehrung, die Melnik dem westukrainischen Faschisten und Nationalistenführer in einem Interview Anfang Juli entgegenbrachte, empörte nicht nur viele Deutsche. Auch aus Polen, einem wichtigen Verbündeten der Ukraine, und aus Israel hagelte es Kritik. Kiew kam einem weiteren Reputationsschaden zuvor und rief Melnik zurück.

Die Diskussion über Bandera und sein Erbe sind auch deshalb so schwierig, weil Präsident Putin seinen Angriff auf die Ukraine als "Spezialoperation" zur angeblichen "De-Nazifizierung" des Landes bezeichnet. In geschichtsklitternder Weise verunglimpft er das Land als einen Hort von antirussischen Rechtsradikalen und Nazis, die Bandera und anderen Kriegsverbrechern huldigen.

Das weltanschaulich so stark verminte Feld der jüngsten Vergangenheit der Ukraine sollte deshalb dringend mit den Erkenntnissen der modernen Geschichtswissenschaft - insbesondere der Holocaust-, der Nationalismus- und der Faschismusforschung - konfrontiert werden. Ukrainische und deutsche Historikerinnen und Historiker haben das Thema leider jahrelang unter den Teppich gekehrt und Holocaust- und Faschismusforscher, die zum Thema arbeiten, angegriffen oder ihre Forschungsergebnisse ignoriert.

Bandera begründete eine ukrainische Variante des Faschismus

Stepan Bandera ist nicht ohne Grund eine umstrittene Person. Als Sohn eines griechisch-katholischen Priesters wurde er am 1. Januar 1909 in Staryj Uhryniw geboren, einem Dorf im multiethnischen Galizien der Donaumonarchie. Schon in früher Jugend interessierte er sich für Religion und die Ideen des Nationalismus und schloss sich dem Kampf für einen ukrainischen Staat an.

Auf dem Gymnasium in der Stadt Stryj wurde er Mitglied zuerst der Ukrainischen Militärischen Organisation (UWO) und später der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN). Beide Gruppierungen waren von ukrainischen Veteranen des Ersten Weltkriegs gegründet worden, die UWO 1921 in Prag, die OUN 1929 in Wien. Die OUN hatte zwar starken Zulauf in Polen, war aber in der sowjetischen Ukraine (der heutigen Zentral- und Ostukraine), wo 80 Prozent aller Ukrainer lebten, vollkommen unbekannt.

Stepan Bandera posiert 1929 in einer Kosakenuniform.
PD

Bandera stieg schnell in der Hierarchie auf. Bereits Anfang 1933 war er Führer (Prowidnik) der Landesexekutive der OUN in Polen. Während seiner Amtszeit ermordete die Organisation mehrere polnische Politiker, aber auch Ukrainer, die sich dem ukrainischen Nationalismus entgegenstellten oder mit dem polnischen Staat zusammenarbeiteten.

Mitte 1934 wurde Bandera mit anderen OUN-Mitgliedern nach dem erfolgreichen Attentat auf den polnischen Innenminister Bronislaw Pieracki verhaftet. Es gelang ihm erst im September 1939, während des deutschen Angriffs auf Polen, aus dem Gefängnis zu fliehen.

In den 1930er und frühen 1940er Jahren hatte sich der ukrainische Nationalismus radikalisiert und begann sich immer mehr dem italienischen Faschismus anzugleichen. Im Austausch mit anderen völkischen Bewegungen in Europa entstand so eine ukrainische Variante des Faschismus, deren Ziel ein ethnisch homogener Staat war. Ab Mitte der 1930er Jahre schmiedete die Bewegung konkrete Pläne, wie Juden, Polen und Russen für die Errichtung eines solchen Staates vertrieben oder ermordet werden sollten.

Bandera war in die Umsetzung dieser Pläne einbezogen, obwohl er von 1941 bis 1944 die meiste Zeit hinter Gittern sass. Er half der deutschen Wehrmacht, die Operation Barbarossa vorzubereiten, und hegte den Vorsatz, danach Oberhaupt eines ukrainisch-faschistischen Staates zu werden, der dann auch wirklich am 30. Juni 1941 in Lwiw proklamiert wurde. Doch das widersprach den deutschen Plänen.

Die Deutschen verhafteten Bandera und setzten ihn bis September 1944 als privilegierten politischen "Sonderhäftling" im KZ Sachsenhausen fest - zusammen mit dem ukrainischen Faschisten Horia Sima und dem Austrofaschisten Kurt Schuschnigg.

In diesen Jahren wurde die multiethnische Westukraine, in der die OUN verankert war, in einen ethnisch-homogenen Raum verwandelt. Ukrainische Nationalisten nahmen an diesem Prozess aktiv teil, waren aber keineswegs die Hauptarchitekten aller Massaker. Zwischen Sommer 1941 und Frühjahr 1943 ermordeten die deutschen Besatzer in der Westukraine 800 000 Juden. Dabei wurden sie von OUN-Mitgliedern aktiv unterstützt. Insbesondere die Organisation von Pogromen im Sommer 1941 geht auf ihr Konto. Viele Nationalisten, aber auch gewöhnliche Bürger traten der ukrainischen Polizei bei und beteiligten sich in deren Rängen an der Vernichtung der Juden. Damit verfolgten sie ihre eigenen politischen Ziele.

Im April 1943, als etwa 90 Prozent der westukrainischen Juden ermordet waren, desertierten 5000 ukrainische Polizisten und schlossen sich der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) an, die Ende 1942 von der OUN aufgestellt worden war. In den folgenden zwei Jahren tötete diese Truppe etwa 100 000 Polen in Wolhynien und Galizien. In seiner Gefangenschaft war Bandera nicht im Detail über den Verlauf der Ereignisse informiert. Aber die Massenmorde an Juden und Polen, deren Ziel ein ethnisch-homogener Staat war, entsprach weitgehend seinen politischen Vorstellungen und den Zielen der OUN.

Wichtig für das Verständnis der Geschichte der Gewalt in der Westukraine und für den darauf folgenden Bandera-Kult in dieser Region ist aber auch der stalinistische Terror, der im Sommer 1944 begann. Bei der Bekämpfung der OUN und UPA ging die sowjetische Geheimpolizei (NKWD) äusserst brutal gegen die Zivilbevölkerung vor. Sie ermordete in der Westukraine über 150 000 Personen und deportierte mehr als 200 000 ins Innere der Sowjetunion. Eine halbe Million Menschen in der Westukraine wurden im Kampf gegen die UPA auf unterschiedliche Weise bestraft und unterdrückt, obwohl die Organisation nie mehr als 100 000 Unterstützer hatte.

Nach seiner Entlassung im September 1944 unterstützte Bandera die Wehrmacht, bis er Anfang 1945 Berlin endgültig verliess. Nach dem Krieg lebte er in München, wo er mit Unterstützung des amerikanischen, britischen und westdeutschen Geheimdienstes ein neues OUN-Zentrum aufbaute. Er führte ein recht behagliches und unauffälliges Leben, ging mit seinen Kindern in den Alpen wandern und hatte Affären mit jüngeren Frauen. Dem Faschismus schwor er nie ab, was gelegentlich zum Streit mit anderen ehemaligen Mitkämpfern führte.

Nachdem der KGB ihn aufgespürt und am 15. Oktober 1959 ermordet hatte, begann die ukrainische Diaspora ihn zunehmend als einen Nationalhelden zu stilisieren, der für die Ukraine im Kampf gegen die Sowjetunion gefallen war. Dieser Mythos wurde in der Westukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion sowohl von antisowjetischen Dissidenten als auch von Neofaschisten aufgegriffen. Er manifestiert sich in zahlreichen Denkmälern, Museen, Strassennamen, Briefmarken, Musikfestivals und den Tattoos seiner Anhänger. Die Zentral- und Ostukraine dagegen blieb dem Kult gegenüber lange kühl - trotz der von den Präsidenten Wiktor Juschtschenko und Petro Poroschenko betriebenen Geschichtspolitik, die Bandera eine prominente Stellung im nationalen Pantheon zuwies.

Nicht nur nationalistische Fanatiker verehren Bandera

Weil die erfolgreiche Verbreitung des Bandera-Kultes in der Zentral- und Ostukraine scheiterte, ist er - jedenfalls bis zum russischen Angriff auf die Ukraine im Februar dieses Jahres - ein regionales Phänomen geblieben. Die Frage, wie der ukrainische Staat mit der Erinnerung an diese kontroverse Figur umgehen soll, ist allerdings nicht einfach zu beantworten.

Denn der Kreis der Banderas-Verehrer schliesst eben nicht nur nationalistische Politiker oder rechtsradikale Fanatiker ein, sondern auch Personen aus dem gesellschaftlichen Mainstream: Musiker, Schriftsteller, Gymnasiallehrer und Geschichtsprofessoren - oder eben Diplomaten wie den Botschafter Melnik. Was sie verbindet, ist der Hass auf Russland, eine spezifische Form des ukrainischen Patriotismus und die Weigerung, die wissenschaftliche Forschung zur Person Banderas zur Kenntnis zu nehmen.

Der gesunde Menschenverstand und die Erfahrungen bei der Aufarbeitung des Holocaust in Deutschland, Frankreich oder den Niederlanden legen nahe, dass auch der ukrainische Staat die Geschichte der OUN und UPA sowie ihrer Anführer und Mitglieder kritisch untersuchen lassen müsste. Bandera erschiene dann in den Museen nicht länger als eine Mischung aus Halbgott und Märtyrer, sondern als ein Politiker, der den ukrainischen Nationalismus radikalisierte, zur Entstehung des ukrainischen Faschismus beitrug und Massengewalt als ein politisches Werkzeug verstand.

In diesem Narrativ hätte er seinen Platz als eine Figur im Kontext des europaweiten Faschismus, zwar nicht gleichzusetzen mit Hitler oder Mussolini, aber mit ähnlicher Bedeutung, wie sie etwa der kroatische Ustasa-Führer Ante Pavelic hat. Mit einem solchen Umgang mit Bandera und anderen Anführern der OUN wie Jewhen Konowalez (1891-1938), Andri Melnik (1890-1964) oder Roman Schuchewitsch (1907-1950) bewiese der ukrainische Staat politische und demokratische Reife. Das diente nicht nur der Entspannung der Beziehungen zu Polen, Israel, Deutschland und anderen Ländern. Kiew würde damit auch Putin nochmals Wind aus den Segeln nehmen, weil die Nazivorwürfe des russischen Autokraten dann völlig ins Leere zielten.

In Lwiw säubern im Februar 2021 Stadtangestellte ein Denkmal für Stepan Bandera, auf das ein Farbanschlag verübt wurde.
Mykola Tys / Sopa / Getty

Doch die Erinnerung an den Terror des NKWD in der Westukraine und vor allem Putins brutaler Angriffskrieg machen zum jetzigen Zeitpunkt die Aufarbeitung der Geschichte des ukrainischen Nationalismus und Faschismus unmöglich. Zu stark ist der Bandera-Kult in das Narrativ des Freiheitskampfes eingelegt, und zu tief ist er vor allem in der Westukraine verwurzelt.

Der deutsch-ukrainischen Historikerkommission und anderen einschlägigen Instituten fehlen schlechthin die Kompetenzen, um dieses Thema aufzuarbeiten. Sie haben sich intensiv mit dem gegen die Ukrainer gerichteten Terror beschäftigt, aber Themen wie Kollaboration, Faschismus und Antisemitismus nie ernst genommen oder sie sogar als russische, polnische oder jüdische Propaganda abgewiesen.

Dennoch ist zu hoffen, dass die Ukrainer bald in der Lage sein werden, auch selbstkritisch in die Vergangenheit zu blicken und die Forschungsergebnisse zu Bandera in Ruhe zur Kenntnis zu nehmen. Ukrainer waren im Zweiten Weltkrieg nicht nur Opfer der Besatzungsmächte, sondern auch Täter, die aus eigenem Willen mit eigenen Zielen handelten.

Wer heute Bandera verehrt, die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu seinem Wirken ignoriert und deren Autoren attackiert, schadet dem ukrainischen Staat enorm. Ein apologetischer Umgang mit Bandera und anderen Schatten der ukrainischen Geschichte erschwert nicht nur die Beziehung mit Deutschen, Israeli und Polen, sondern macht dieses wichtige europäische Land angreifbar und behindert seine Demokratisierung.


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© infos-sachsen / letzte Änderung: - 10.04.2024 - 10:46